Markus 13:32 lautet:
„Von jenem Tage aber oder der Stunde weiß niemand, weder die Engel im Himmel noch der Sohn, sondern nur der Vater.“
Dieser Vers wird oft als Herausforderung für die christliche Lehre über die Göttlichkeit Jesu Christi angesehen. Wie kann Jesus allwissend und zugleich unwissend sein? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir den Kontext, die theologischen Hintergründe und die Sprache des Textes untersuchen.
Kontext des Verses
Markus 13:32 steht im Kontext von Jesu Endzeitrede, in der er über zukünftige Ereignisse und das Kommen des Menschensohns spricht. Seine Aussage über den „Tag oder die Stunde“ bezieht sich auf den Zeitpunkt seines zweiten Kommens, das weder von Menschen noch Engeln und, wie es scheint, auch nicht von ihm selbst bekannt gegeben wird.
Diese Aussage muss im Licht von drei zentralen Themen betrachtet werden:
1. Die Inkarnation Jesu
2. Die jüdische Hochzeitstradition
3. Die Rolle der Dreieinigkeit
Die Inkarnation: Selbstbegrenzung Jesu
Die christliche Lehre der Inkarnation besagt, dass Jesus, obwohl er Gott ist, Mensch wurde und sich freiwillig in einigen Aspekten seiner Göttlichkeit beschränkte, um die Menschheit zu erlösen. Philipper 2:6-8 beschreibt diesen Vorgang:
„Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein; sondern entäußerte sich selbst, nahm die Gestalt eines Knechtes an und wurde den Menschen gleich.“
Diese Selbstbegrenzung erklärt, warum Jesus in seiner menschlichen Natur nicht alle göttlichen Attribute voll ausübte, darunter Allwissenheit. Seine Aussage in Markus 13:32 bezieht sich auf seine menschliche Funktion während seines irdischen Lebens und nicht auf seine göttliche Natur, in der er weiterhin allwissend bleibt.
Grammatik und das Wort „wissen“
Das griechische Wort „οἶδεν“ (oiden), das in Markus 13:32 verwendet wird, wird oft als „wissen“ übersetzt. Doch es hat je nach Kontext eine breitere Bedeutung. In einigen Fällen kann es auch „verkünden“ oder „offenbaren“ bedeuten.
Ein Beispiel finden wir in 1. Korinther 2:2, wo Paulus sagt:
„Denn ich hatte mich entschlossen, bei euch nichts zu wissen außer Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten.“
Hier bedeutet „wissen“ nicht, dass Paulus keine andere Kenntnis hatte, sondern dass er sich auf die Verkündigung von Christus konzentrierte.
Daher könnte Markus 13:32 auch so verstanden werden:
„Von jenem Tage oder der Stunde verkündet niemand, weder die Engel im Himmel noch der Sohn, sondern nur der Vater.“
Die jüdische Hochzeitstradition
Jesus nutzt in seinen Lehren oft Bilder aus der jüdischen Kultur. Eine Verbindung zu Markus 13:32 findet sich in der jüdischen Hochzeitstradition (Nissuin):
• Nach der Verlobung ging der Bräutigam zurück zum Haus seines Vaters, um eine Unterkunft für seine zukünftige Braut vorzubereiten.
• Der Vater des Bräutigams entschied, wann die Hochzeit stattfinden sollte, und ließ dies ankündigen. Der Bräutigam selbst kündigte den Hochzeitstermin nicht an, obwohl er ihn kannte.
Jesus verwendet dieses Bild, um seine Unterordnung und den Respekt gegenüber dem Vater zu zeigen. Es bedeutet jedoch nicht, dass er unwissend war. Vielmehr respektiert er die Autorität des Vaters, der den Zeitpunkt des zweiten Kommens festgelegt hat.
Die Rolle der Dreieinigkeit
Die Aussage in Markus 13:32 muss im Licht der christlichen Lehre von der Dreieinigkeit verstanden werden.
• Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist sind in Wesen und Macht gleich, aber sie erfüllen unterschiedliche Rollen.
• Jesus beschreibt hier seine freiwillige Unterordnung als Sohn in der Inkarnation.
Diese Unterordnung ist funktional, nicht ontologisch. Sie beeinflusst nicht seine göttliche Natur oder Allwissenheit, sondern zeigt die Harmonie innerhalb der Dreieinigkeit.
Skeptiker und Experten über Markus 13:32
Auch nicht-christliche Experten erkennen an, dass Markus 13:32 die historische Realität des Textes unterstreicht. Ein Argument der Bibelkritik lautet:
• „Wenn die Evangelisten Jesus erfinden wollten, hätten sie ihm nie eine solche Aussage zugeschrieben, da sie seine Göttlichkeit scheinbar in Frage stellt.“
Dr. Daniel Wallace, ein führender Neutestamentler, bestätigt, dass Markus 13:32 in keiner Weise Jesu Göttlichkeit leugnet, sondern seine Menschwerdung betont. Er sagt:
„Die Aussage zeigt die Komplexität des Gott-Mensch-Seins Jesu, ohne seine göttliche Allwissenheit zu negieren.“
Apostelgeschichte 1:7 und die Zeit der Wiederkunft
In Apostelgeschichte 1:7 sagt Jesus nach seiner Auferstehung:
„Es steht euch nicht zu, Zeiten oder Fristen zu wissen, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat.“
Dies bekräftigt die Aussage aus Markus 13:32. Jesus spricht hier als der auferstandene Herr, der weiterhin die Autorität des Vaters anerkennt, ohne dass dies seine eigene Göttlichkeit beeinträchtigt.
Fazit: Ein Bild von Respekt und Harmonie
Markus 13:32 stellt keinen Widerspruch zur Göttlichkeit Jesu dar, sondern illustriert:
• Die Selbstbegrenzung Jesu in der Inkarnation,
• Die Harmonie und Rollenverteilung innerhalb der Dreieinigkeit,
• Und das Bild einer jüdischen Hochzeit, in der der Bräutigam den Vater ehrenvoll die Ankündigung machen lässt.
Jesus wusste als Gott den Zeitpunkt seines zweiten Kommens, offenbarte ihn jedoch nicht, da es nicht seine Rolle war. Der Vers zeigt, wie tief Jesus die Autorität des Vaters respektierte und wie er die Menschheit durch seine Menschwerdung mit Gott versöhnte.